5. Tag: Sermoyer - Saint-Martin-en-Vercors

Fast zeitgleich schlagen wir die Augen auf. Hat uns die unheimliche Stille aufgeweckt? Kein Laut dringt von außen in unsere winzige Kammer. Wir ziehen die Vorhänge auf die Seite und gucken auf eine aufgeräumte Wiese. Alle Fahrräder, Tretroller, Hüpfbälle, Scooter, Federballschläger und Frisbee-Scheiben sind verschwunden. Das Haus steht leer. Nur das Kaninchen beobachtet uns aufmerksam aus seinem Käfig. 

Ahhh, Samstag! Die Familie macht wohl einen Ausflug? Wir geben zu, dass uns das sehr recht ist und wir genießen die Ruhe, während wir einen Kaffee anrühren und unser Zeug in die Packrollen stopfen. Eigentlich ist es doch eine recht schöne Unterkunft

Nach einem kleinen Drohnenflug über das Anwesen klettern wir auf die Transalps und zuckeln den steilen Schotterweg auf die Straße. Es ist genau 9:45 Uhr und wir haben schon in die Karte geguckt: Der schmale Single-Track D58B vor dem Haus bringt uns direkt in den Süden. Also los! 

Es hat fast 20°C und die Sonne wärmt vom blauen Himmel. Perfektes Motorradwetter! Weniger perfekt allerdings der kleine Güterweg, der quer über weite Felder führt. Tiefer und unregelmäßig aufgeschütteter Schotter macht das Vorankommen mühsam. Wir tuckern langsam und vorsichtig dahin und überholen ein paar unsichere Radfahrer, die fluchend über das unerwartete Gravel-Abenteuer dahinschlingern.

Nach 10 km haben wir Saint-Trivier-de-Courtes erreicht und sind verschwitzt. Wir halten nur kurz an und besuchen die örtliche Apotheke für ein paar notwendige Kleinigkeiten, bevor wir die Schnellstraße D975 entern. Unser Plan ist, möglichst schnell die erforderlichen Autobahnabschnitte hinter uns zu bringen, um genug Zeit für eine Gegend zu haben, über die in Motorradreiseberichten wahre Hymnen gesungen werden: Das Vercors.

Es ist für den Schreiberling eine unangenehme Situation, aber was gibt es über 200 km Autobahn zu berichten? Es herrscht hier in der geographischen Nähe zu Italien starker Verkehr und der wunderschöne Samstag verstärkt das Verkehrsaufkommen. Dass wir Lyon umrunden müssen, macht es nicht lustiger, denn diese Stadt ist trotz nur 500.000 Bewohnern die drittgrößte Stadt Frankreichs. 

Lyons Wahlspruch "Avant, avant, Lion le melhor!" gilt heute nicht für uns. Wir kommen kaum voran und beschließen kurz nach "Lugdunum", eine ausgiebige Pause zu machen. Nach 150 km haben wir schon die Autobahnabschnitte auf der A39, A40, Bourg-en-Bresse, die A42 und die A432 hinter uns gebracht!

Manchmal war eine Mautstation an der Autobahn, aber - anders als im östlichen Nachbarland Frankreichs - funktionieren die Automaten und die Gebühren sind geradezu lächerlich gering. Für die gesamte Strecke zahlten wir gemeinsam etwa 15.- und eine Durchfahrt bekam Angelika sogar geschenkt: Niemand weiß, warum der Schranken ohne Zahlung nach oben schnellte, nachdem sie ihr Ticket lächelnd in die Kamera gehalten hatte! Die Zahlung hatte nicht funktioniert und die Stimme im Automaten hatte verlangt, das Ticket zu sehen. 

Wir haben um 12:00 Uhr soeben den Großraum Lyon verlassen, als endlich eine Raststation auftaucht. Schwungvoll kurven wir auf den weitläufigen Parkplatz und suchen einen schattigen Platz. Die dunstige Schwüle macht auch 21°C ziemlich unangenehm und wir sind komplett verschwitzt.

Hören wir besserwisserische Kommentare, warum wir eine angeschmuddelte Autobahnraststätte aufsuchen? Leute, wir sind in Frankreich! Und wo sonst haben Autobahn-Restis eine Partnerschaft mit der italienischen "Universität für Gastronomische Wissenschaft"? Die Studenten erforschen nicht nur leckeres "Slow Food", sie organisieren auch das Futter an den Autobahnen!

Die saftigen Mini-Quiches Lorraine mit Käse und Speck schmecken so dermaßen lecker, dass wir uns ungeplant und heillos überfressen. Der schaumige Café au Lait dazu passt hervorragend! Die Pause hat uns gut getan und kurz später haben wir die Autobahnen hinter uns gebracht, als am Horizont unvermutet plötzlich hohe Berge auftauchen.

Warum wir uns in Voiron verfahren haben, bleibt im Dunklen, die Baustelle am Fluss Isére hat jedenfalls nicht geholfen und der Blick auf die monumentale Kathedrale entschädigt nur kurz. Nun, die ist mit 150 Jahren auch nicht wirklich alt. So wie die "Wiener Ringstraße" imitiert sie nur ihre historische Bauweise. 

Nach einem kurzen Blick auf Googlemaps rollen wir entspannt die stark befahrene D1092 entlang. Die Ortschaften hier haben schon bessere Zeiten gesehen. Alles wirkt ziemlich verfallen und verbraucht, aber nicht auf die gute Art, die Touristiker gerne "romantisch und authentisch" nennen.

Nach wenigen Kilometern gucken wir neidisch aufs andere Ufer der Isére und beschließen, rüberzuwechseln. Vielleicht ist es auf der anderen Seite schöner zu fahren? Und tatsächlich! Plötzlich cruisen wir durch endlose Nuss-Plantagen und da steht auch schon das Schild, das wir aus dem Périgord kennen: "Route de la Noix" - die Nussroute!

Viele Kilometer rollen wir zwischen hohen Felswänden und Walnussbäumen dahin und genießen die Fahrt entlang der "Rue de Vercors". Wieviele Liter Nuss-Schnaps könnte man hier wohl brauen? Oder wieviele Nussbeugerl füllen? Während wir diesen Gedanken nachhängen, erreichen wir Saint-Romans und biegen schwungvoll links ab.

Die Straße heißt nun D518 und wird sofort bedeutend enger, steiler und kurviger. Es ist eine fantastische Strecke durch die "Gorges de la Bourne" und wohl kein Zufall, dass Google-Streetview so viele Motorradfahrer fotografiert hat! Auch heute sind wir hier nicht alleine und wir haben intensiv Lust auf eine Pause und Kaffee. Da vorne ist schon Pont-en-Royans

Als wir in das mittelalterliche Dörfchen einfahren, müssen wir lachen. Wie naiv kann man sein? "Ach, ich fahr mal kurz nach Hallstatt auf ein Bier." "Komm, lass uns schnell in Geiranger eine Kleinigkeit essen..." Overtourismus ist das Schlagwort, das diese Orte eint! In Pont-en-Royans ist an diesem Samstag nicht einmal mehr ein Stehplatz frei. Nirgends. Nicht einmal dort, wo nichts ausgeschenkt wird.

Der Ort mit den "hängenden Häusern" in der Talenge ist vollkommen überrannt. Enttäuscht bollern wir ans Ortsende und halten an. Ok, kein Kaffee, aber ein paar Fotos nehmen wir von hier mit! Der Anblick von an Felswände geklatschte Häuser, deren Balkone schon über den Fluss ragen, ist einzigartig, phänomenal, einfach sagenhaft! Leider finden wir keine gute Kameraposition, aber das fällt uns erst zu Hause auf. 

Nachdem wir uns sattgesehen haben, rollen wir vorbei an einem eindrucksvollen Wasserfall einen engen Weg weiter. Die D531 dürfte der Hauptanziehungspunkt für Motorradfahrer sein, es herrscht viel Verkehr! Scharfkantige Felsen begrenzen links die Straße und rechts tief, sehr tief unten sprudelt der namensgebende Wildbach Bourne durch die Schlucht.

Und da! Plötzlich fahren wir unter hängenden Felsen, deren Wuchtigkeit uns die Luft anhalten lässt. Zum Glück tragen wir unsere GoPro-Cams nicht im Teletubby-Style, sonst hätten wir jetzt schnell die Köpfe eingezogen. Die einspurige Straße wurde richtig aus dem Felsen und manchmal mitten durch rausgefräst! Was für eine grandiose Streckenführung! 

Nach einem besonders aufregenden Felsüberhang halten wir am Straßenrand. Als wir uns umdrehen, erkennen wir plötzlich das bekannte Motiv aus zahlreichen Motorradreiseberichten. Aha, hier ist das! So wie auch die "Ligurische Grenzkammstraße" meist in dieser einen - abenteuerlich und gefährlich wirkenden - Kurve aus fotografiert wird, so suchen auch hier Reiseblogger und Social-Media-Entrepreneure dieses eine spektakuläre Motiv, um ihr Können, ihren Wagemut, ihre Abenteuerlust, you name it, zu illustrieren.

Wir hingegen haben heute schon genug vom Motorradfahren und beschließen spontan, den Besuch der Choranche-Grotte auszulassen. Wir haben das Schild gesehen, das links steil in die Felsen hinaufweist und wir wollten diese Top-Sehenswürdigkeit nicht nur im Vorbeilaufen mitnehmen. Dafür nehmen wir uns einmal mehr Zeit!

Stattdessen cruisen wir gemütlich talauswärts, nicht ohne einen Blick auf den Campingplatz "Gouffre de la Croixe" zu werfen, den man uns ans Herz gelegt hatte und den wir wegen "Erst ab 2 Nächten buchbar" wieder verworfen hatten. Doch aufpassen! Da vorne geht es schon rechts ab auf die D255!

Angelika schickt noch schnell ein Stoßgebet zum Himmel, auf dass sich dieser enge Weg hinauf in die Felsen nicht plötzlich angsteinflössend und schwindelerregend erweist und schon kurven wir langsam und vorsichtig durch einen dunklen Wald, der sich an die scharfkantigen Felswände des Vercors schmiegt. Knapp, bevor wir an unserem Orientierungssinn zweifeln, die Überraschung:

In nur zwei Kurven hat sich die Gegend dramatisch verändert! Die Straße heißt nun D103 und wir haben schlagartig die steilen Felsklüfte hinter uns gelassen und rollen gelassen talwärts über eine weite, grüne Almlandschaft. Schwarzweiß gefleckte Kühe grasen auf den sanften Hängen und die Sonne scheint milde auf kleine Holzhäuser und hübsche Bauernhöfe. 

Da ist schon Saint-Martin-en-Vercors, unser Ziel! Wir entdecken eine einzelne, ziemlich abgewrackte Zapfsäule am Ortseingang und - "Traust du dich, da deine VISA reinzustecken?" - tanken unsere Transalps randvoll. Noch ein Katzensprung und wir haben unseren Campingplatz erreicht, es ist genau 16:30 Uhr.

Die wärmende Sonne versinkt gerade hinter den hohen Bergen, als wir versuchen, es uns im Safari-Zelt gemütlich zu machen und uns nicht anmerken lassen, dass uns weder das Zelt noch die unfreundliche Snack-Bar oder überhaupt der ganze Platz gefällt. Wenn man nicht darüber redet, ist es nicht passiert, oder?

Die laut feiernden Jugendlichen im Nebenzelt sind letztendlich nicht unser größte Problem. Es hat binnen kurzer Zeit auf 4°C abgekühlt und wir frieren gottserbärmlich. Wir verwenden unseren Gaskocher als Tischheizung, als wir mit steifen  Fingern unser Travellunch löffeln und bibbernd alles an Kleidung anziehen, was die Ortlieb-Rolle hergibt. Unsere Ausrüstungsliste trägt diesmal den Titel "Sommer in Südfrankreich" und dementsprechend karg ist die Garderobe.

Was für eine vollkommen bescheuerte Idee, mitten in den Bergen ein hellhöriges Zelt zu mieten! An einem Samstagabend! Ende Mai! Auf 800 m Seehöhe! Wir hätten es als Bewohner eines Alpenlandes besser wissen müssen. Aber lest selbst: >> Camping La Porte

Mehr aus Verzweiflung beenden wir den Abend schnell und fallen viel später in einen unruhigen Schlaf, aus dem wir abwechselnd und vor Kälte schlotternd immer wieder aufwachen...

Tageskilometer: 275 km

Der nächste Tag: >> klick

Durchs Vercors in die Kälte

vercors

Eine wunderschöne Strecke habt ihr da gefunden! Unter den Felsen durch ist wirklich sehr fotogen! :-)

Also ehrlich, ich hätte bei solchen Temperaturen in keinem Zelt übernachten wollen. Hätte es spontan dort andere Möglichkeiten gegeben? Ich stelle mir das furchtbar vor!

LG
TinA

Und das alles Ende Mai

Ich freu mich, dass es nun weitergeht, sonst hängen wir da ja ewig fest. :-)
Royans überfüllt?! Das Erstaunliche ist doch, dass wir gerade mal Ende Mai hatten. Das geht immer früher los mit dem Ansturm der Besucher. Irgendwann werden wir an einem regnerischen Dienstagmorgen im November auf Reisen sein. Und dann, dann haben wir alles für uns allein. Ätsch...

Die Strecke unter den hängenden Felsen ist der Hammer! Und eure Fotos davon erstklassig. So scharf und perfekt belichtet. Meine Güte...

"Gouffre de la Croixe", wer immer euch den empfohlen hat: Die Käseplatte soll sensationell gut sein. Inklusive einer Erläuterung der anwesenden Käses :-)

"Unsere Ausrüstungsliste trägt den Titel "Sommer in Südfrankreich"
Ha, ha... Oh, was war das kalt in diesem Mai.

Ach menno, jetzt gerade denke ich wieder sehr an Frankreich hin. So schön ist es da, selbst dort, wo es mal weniger schön ist.

Danke für diese wunderbare Geschichte zum langen Wochenende.

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zuletzt aktualisiert am 2.10.2025