Wir haben unfassbar gut geschlafen! Unser erster Blick fällt zufrieden auf das Holz unserer Behausung, das im warmen Licht der Lampe honigfarben schimmert. Da stört uns das nebelige Wetter draußen überhaupt nicht! Außerdem hat der nette Typ gestern eine bunte Frühstücksplatte im Kühlschrank verstaut. Schauen wir mal, was wir bekommen haben!
Schnell ist die Kanne Kaffee fertig und der Tisch eingedeckt. Was für ein toller Start in den Tag! Wie Brötchenservice am Campingplatz, nur besser. Oh, was ist denn das? Der Servicemann hat die beiden kleinen Dinger "Karjalanpiirakka" genannt und lachend den Namen auf ein Zettelchen geschrieben. Wir googeln, als wir uns großzügig Kaffee einschenken: Karelische Piroggen! Wow! Das kennen wir nicht! Wir mampfen die Teilchen mit reichlich Ei-Butter und sind begeistert. Das ist mal ein Frühstück!
Es ist schon 11:30, als wir endlich unser wundervolles Häuschen verlassen. Der Nebel hebt sich gerade malerisch über die Ostsee und die Sonne kämpft sich durch. 14°C, perfektes Motorradwetter! Mit einem schnellen Blick auf die Karte entscheiden wir, die nächsten 40 km auf der E8 zu bleiben. Es gibt von hier keinen sinnvolleren Weg in den Norden! Es ist mild und sonnig geworden und die Landschaft wird mit jedem Kilometer fremdartiger: Die Bäume werden dürftiger und niedriger und die Vegetation rauher. Wir spüren deutlich, dass wir in Lappland sind!
Wir überqueren den gewaltigen Kemijoki und schauen neugierig links und rechts. Der längste Fluss Finnlands ist hier so breit, dass er wie ein gewaltiger See wirkt. Das hellblaue Wasser schaut ganz klar aus. Schön! Aber nun Vorsicht! Wir fahren ab Keminmaa nach der Karte. Da vorne!
Wir werfen Anker und biegen schwungvoll nach links ab. Sofort wird die Straße eng, der Asphalt schlecht und die Streckenführung kurvenreich. Wir wedeln zügig den Rv 19352 entlang. Dürftige Nadelwälder wechseln mit kleinen Ackerflächen und die hübschen falunroten Gehöfte mit ihren weißen Fensterrahmen zeichnen bunte Farbflecken in die Kulisse. Bei Lautamaa sind wir endgültig in der Einsamkeit angekommen. So manches Herrenhaus steht aufgelassen und desolat am Straßenrand des schmalen Single-Track, den wir nun entlangholpern.
Als wir bei einer überraschend daherkommenden T-Kreuzung scharf nach links auf den Rv 927 abbiegen, nieselt es beständig. Zum Glück haben wir das Regenzeug schon bei der Abreise angelegt! Wir machen eine kleine Kaffeepause am Straßenrand und beobachten eine dekorative Pferdeherde, während wir an unserem norwegischen Jahresbecher heiße Schokolade nippen. Die haben wir nach dem Frühstück schnell angerührt.
Was für eine Freude, als wir bei Yli-Liakka ans Ufer des Tornionjoki stoßen! Dieser 410 km lange Grenzfluss zeigte uns 2019 den Weg nach Norden, auch wenn wir damals gegenüber auf der schwedischen Seite dahin cruisten und der Fluss dort "Torne älv" heißt, Wir freuen uns, sozusagen eine bekannte Gegend zu bereisen! Außerdem scheint jetzt die Sonne und es wird sehr schnell sehr warm.
Info
Das Tornedalen, das Tal des Flusses Tornionjoki/Torne älv hat als eigener Kulturraum eine bewegte Geschichte! Anfang des 19. Jhdt. war hier Schweden, bis Russland 1808 die Schweden angriff und besiegte. Als Beute wurde neben den Aland-Inseln (auch) das Tornedalen an die Russen abgetreten, die daraus das Großfürstentum Finnland konstruierten. Eine Art Autonomiegebiet des russischen Zarenreichs. Es brauchte dann 110 Jahre, eine blutige Revolution und das Ende des Zarenreichs, bis Finnland endlich unabhängig und das Tal finnisch wurde.
Gleich nach der Grenzbrücke, die hinüber ins schwedische Övertorneå führt, bleiben wir auf einem kleinen Rastplatz am Ufer stehen. Meine Güte, hier ist es schön! Die Sonne zeichnet glitzernde Kringel aufs Wasser und langsam verziehen sich die Wolken. Angelika ist ein wenig zappelig, denn bald sind wir da: Am Polarkreis! So oft wir den schon überschritten haben, so aufregend ist es jedes Mal wieder! Wie mag der Arctic Circle hier in Juoksenki aussehen?
Wir reißen uns das Regengewand vom Körper und stopfen alles in die kleine Packrolle, die wir sorgsam wieder hinten drauf schnallen. Weiter gehts! Wir sehen aus den Augenwinkeln die überschwemmten Ufer des Torniojoki, der sich weit ins Landesinnere breit gemacht hat. Das schaut spektakulär aus! Und da ist schon das erste Schild, das auf den "Napapiiri" hinweist, wie der Polarkreis hier heißt.
Wir hatten schon das imposant-touristische Polarsirkelen-Senteret am Saltfjellet in Norwegen, das zugesperrte und dennoch auffällige Szenario drüben im schwedischen Juoksengi oder den einfachen Metallglobus auf einer Schäre in Fjordnorwegen. Interessant, wie unterschiedlich der Übertritt in die Arktis markiert wird! Wir sind neugierig, wie sich das hier darstellt!
Nur Augenblicke später kurven wir auf den weitläufigen Parkplatz eines Souvenirgeschäfts "Tuomaan Paja". Es ist 14:45. Sind wir schon da? Ein dezentes Schild an der Türe weist auf den Polarkreis hin, der sich hier befindet. Jetzt schauen wir auf die hohe Plastiksäule hinauf, die in grellen Farben vom Napapiiri spricht. Ok! Das ist es! Nüchtern, unspektakulär, unpathetisch. Und sehr touristisch: Der Polarkreis als Shop mit Kitsch und Tand.
Wir sind enttäuscht, aber nicht enttäuscht genug, um nicht T-Shirts mit "Lappland"-Bild, ein kleines Souvenir und leckeren Kuchen und Kaffee zu kaufen. Wir tragen unsere Beute ins Freie und lassen uns auf dem schweren Holztisch am Ufer des Flusses nieder, der hier in der Sonne steht. Wenn es schon keinen Instagram-fähigen Polarkreis gibt, dann wenigstens eine leckere Jause im Sonnenschein! 22°C und blauer Himmel waren auf dieser Reise noch nie!
Außerdem müssen wir unsere weitere Route planen, denn hier gehts für uns nicht weiter in den Norden! Wir breiten unsere große Karte aus. Schmunzelnd erinnern wir uns an die Fahrt 2019 zum Nordkapp, die ab dem Polarkreis da drüben auf schwedischer Seite so richtig spektakulär wurde. Die besten Geschichten sind halt immer die, bei denen man lieber nicht dabei gewesen wäre!
Wir spülen das letzte Stück Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinunter und weiter gehts! Gleich hier beginnt der schmale Rv 19639, der uns geradewegs nach Westen bringt. Kaum haben wir das winzige Örtchen Ratasjoki hinter uns gelassen, endet die Zivilisation. Auf unendlich einsamen Wegen cruisen wir durch kleine Wäldchen und über rauhe Ackerwiesen. Man merkt der Natur an, dass hier vor kurzem noch Winter war! Immer wieder nieselt es vorübergehend aber das ist uns jetzt egal!
Wir finden Finnland plötzlich wunderschön. Es ist eine spröde Schönheit aber wir sind begeistert! Es ist so ruhig, so schroff, so verlassen, so fern unserer bekannten Welt. In den nächsten zwei Stunden auf dem schmalen Pfad werden wir genau ein (!) Auto sehen, das uns entgegenkommt! Häufiger als Straßenverkehr sind die unzähligen kleinen Seen, Tümpel, Bäche und Sümpfe links und rechts vom Straßenrand. Aufmerksam scannen wir laufend den Straßenrand, um keinen Elch zu übersehen! Hier gibt es doch welche?
Bei Mellakoski wechseln wir auf den Rv 930. Die Straße wird unwesentlich breiter aber nicht weniger einsam. Gemächlich ziehen wir unsere Bahnen zwischen ausgehungerten Birken- und Fichtenwäldchen, die sich unendlich bis zum Horizont ausbreiten. Wir sind jetzt über eine Stunde unterwegs und brauchen eine Pause! Die ständige Elch-bedingte Konzentration strengt an!
Wir halten in einer kleinen Ausweiche im Nirgendwo. Nirgendwo? Hier steht ein Wegweiser nach Pisa! Die Stadt mit dem schiefen Turm? Die weltweite PISA-Bildungsstudie, bei der die Finnen regelmäßig auf Platz 1 landen? Nichts von alledem, nur ein winziges Örtchen am Rande der Geschichte, in der Einsamkeit finnischer Wälder!
Nach ein paar Schluck aus der Thermoskanne müssen wir weiter. Wir werden langsam müde. Die verlassenen Straßen, die gleichförmige Streckenführung und die Wärme fordern langsam ihren Tribut. Die Sonne scheint schon lange ungebremst vom Himmel. Noch 40 km bis zu unserem Ziel! Wir sind schon so neugierig...
So plötzlich wie die Gegend einsam wurde, so plötzlich ist Schluss damit! Schon sehen wir die ersten Siedlungen und nach wenigen Metern stoßen wir auf die E75. Eine Autobahn, die ihren Namen nicht verdient! Wie eine hübsche österreichische Bundesstraße schlängelt sie sich an den zerklüfteten Ufern des gewaltigen Kemijoki bis in die Hauptstadt Lapplands: Rovaniemi!
Es ist Punkt 18:00, als wir am Parkplatz des "Santa Claus Holiday Village" halten. Diesen Platz kann man wirklich nicht verfehlen! Er ist geradezu absurd künstlich-weihnachtlich dekoriert. Wir klettern von den Transalps und checken uns bei den Elfen der Rezeption die hübsche Hütte Nr. 16. Noch ein paar Meter an den pittoresken pseudofinnischen Häuschen vorbei und wir haben es geschafft!
Wir haben viel über den "Wohnort des Weihnachtsmannes", den "Ort mit 365 Tagen/Jahr Weihnachten" gelesen. So viele Motorradreisende wenden sich mit spöttischem Grausen ab und betonen, dies hier sicher niemals besuchen zu wollen. Aber warum denn? Uns interessiert so ein absurder Ort! Verrückt, durchgeknallt und völlig bescheuert, das gefällt uns! Der brutale Overtourismus hat Anfang Juni noch nicht Einzug gehalten und so gehört der Weihnachtsmann diesmal uns!
Unsere Hütte ist luxuriös eingerichtet, mit Weihnachtsfresko und Elchgeweih-Luster an der Wand. Und eine eigene Sauna im Badezimmer! Unsere Terrasse schmückt ein gewaltiger Christbaum, den man mit einem Klick in festliches Licht tauchen könnte, wenn es finster wäre. Wir richten uns gemütlich ein und nippen dabei am Kaffee. Wir haben Hunger! Schauen wir mal, wo es hier etwas gibt?
Nur wenige Schritte später lauschen wir dem singenden-klingenden "Stille Nacht" im "Three Elves Restaurant". Dutzende überbordend geschmückte Christbäume und glitzernde Girlanden als Deko und der Duft von Zimt und Lebkuchen! Was für ein verrückter Ort, dieses Weihnachts-Disneyland! Wir wählen mit Bedacht aus der hübschen Speisekarte, denn heute wollen wir mal so richtig reinhauen.
Bald bringt der hochgewachsene Bedienungs-Elf die Vorspeise "Taste of Lapland" (18,50€). Wir teilen uns den Schieferstein, auf dem dekorativ geräuchertes Rentierfleisch, Lachs, Rauchkäse, verschiedene Gemüse und Moltebeeren-Marmelade auf knusprigem Brot zu einem bunten Haufen geschlichtet sind.
Meine Güte, ist das lecker! Kaum haben wir das letzte Stück weggejausnet, werden schon traditionelle Rentierfleisch-Bällchen auf Pfeffer-Kartoffelstampf mit Preiselbeermarmelade serviert (je 18,50€).
Die haben die Lizenz für Alkohol? Klasse! Das ist doch die Gelegenheit für ein großes "Karhu"-Bier (7,50€)! Didi ist begeistert von der finnischen Braukultur, während Angelika an einem aussagekräftigen Gebinde Preiselbeersaft nippt (3,50€). Wollen wir noch ein Dessert? Wir überlegen, denn eigentlich sind wir schon satt. Ach was solls! Das Bild vom "Schokoladenfondue für Zwei" (22€) schaut so überzeugend aus...
Glücklich aber völlig überfressen zahlen wir bei dem hübschen Elfen-Mädchen die Gesamtrechnung von 80€ und bekommen als Hüttenbewohner einen kleinen Rabatt. Obwohl man über Geld angeblich nicht spricht planen wir, diese Infos in unseren Reisebericht aufzunehmen. Wir finden es interessant, was man in Finnland an einem Touristen-Hotspot fürs Essen zahlt! Die Qualität? Bei tripadvisor hat es nur für den 37. Platz gereicht, aber wir sind da wohl unkritisch.
Es ist 21:30, als wir uns auf einen kleinen Rundgang durch das Weihnachtsdorf machen. Obwohl es noch genau 20 Tage bis zum Juhannus-Fest am Mittsommertag sind, bleibt es schon richtig lange hell. So schlendern wir ziellos umher, um uns einen Eindruck zu verschaffen. Natürlich balancieren wir auch den Polarkreis entlang, der hier prominent den Hauptplatz in zwei Hälften teilt. (Dass der Polarkreis bereits einige Meter daneben liegt und weiter wandert, tut nichts zur Sache. Das ist kompliziert und hat irgendwie mit der Erdachse zu tun.)
Wir sind ganz alleine unterwegs. Das ist hier zu Weihnachten anders, wenn halb Japan und USA hierher übersiedeln! Plötzlich wird es kalt und ungemütlich und das süßlich über den Platz klingende "Leise rieselt der Schnee" verbreitet zuviel Winterstimmung für eine Sommerreise.
Wir beeilen uns in unsere kleine Luxushütte und schalten die Sauna ein. Heute gehen wir spät schlafen. Morgen wird erstmals kein Wecker läuten, denn wir machen an diesem verrückten Ort unseren ersten Tag Fahrpause!
Tageskilometer: 275 km
Hier geht es bald weiter: >> klick