Was für ein Mist! Der Col d´Iseran ist heute noch gesperrt! Wie schon beim Mont Lozère vorige Woche und gestern beim Col du Galibier sind wir genau einen Tag zu früh dran. Einen Tag! Diesen höchsten überfahrbaren Gebirgspass der Alpen (2.764m) und den Ort Val d´Isere hätten wir wirklich gerne mitgenommen. Ausserdem: Wie kommen wir jetzt von hier in den Norden?
Während wir ausreichend vom kleinen Frühstückbuffet nehmen, zeichnen wir mit Leuchtstift eine Alternativroute in unsere Karte. Wir müssen einen Umweg nehmen. Hoffentlich wird das schön zu fahren! Heute ist einer jener Tage, in denen uns das Motorradfahren nur wenig Freude macht. Manchmal auf Tour ist das so. Warum, weiß niemand. Der Chef des kleinen Hotels steckt uns noch zwei Bierflaschen für unterwegs zu. Reiseproviant, wie er es nennt. Na der Mann hat Vorstellungen! Aber abends werden wir uns über das Geschenk sehr freuen. Um 9:45 Uhr klettern wir auf unsere Transalps und lenken quer über den Gehsteig auf die Straße. Los gehts!
Zügig kurven wir nun den Fluss Arc entlang. Die D1006 führt uns gen Westen, teils neben und fast unterhalb der Autobahn. Der Fluss ist durch -zig Kraftwerksbauten unterbrochen und nicht schön anzusehen. In La-Chambre führt die D213 in rabiaten Kehren hinauf in die Berge. Binnen weniger Meter haben wir eine prächtige Aussicht ins Tal des Arc. Links und rechts von uns breiten sich fruchtbare Almen aus und wir sehen ober uns die ersten Bergspitzen.
Die schöne Aussicht wird jäh unterbrochen. Im künstlichen angelegten Ort St. François-Longchamp behindern zahlreiche Baustellen unser Vorankommen. Ist das eine französische Sache, mitten in der schönsten Bergwelt Kunstdörfer hinzuknallen, das Traditionelle abzureissen, alles auf pseudoalpines Flair hinzubasteln? In Österreich fällt uns nur Obertauern ein, wo das ebenso ausgeartet ist. Kennt ihr Isola 2000? Wer will so etwas? Wer findet so etwas schön?
Noch ein oder zwei weitläufige Kurven und wir rollen über den kleinen Pass Col de la Madeleine. Für die "Route des Grandes Alpes" ist er mit seinen 1.993m zu niedrig. Aber der Ausblick auf das Gebiet des Mont Blanc ist großartig! Wir parken die Transalps neben dem Gipfelstein und trinken ein paar Schluck aus der Thermosflasche.
Heute am Donnerstag den 8. Juni haben sich hier zahlreiche Motorradfahrer eingefunden! Es ist wohl das übliche "Sehen und Gesehen werden", auch wenn eine Gruppe aus Wien grußlos an uns vorbeischlendert. Was stimmt mit denen nicht! Stattdessen spazieren zwei belgische Motorradmädchen zu uns rüber. Sie finden unsere Transalps anbetungswürdig und sie erzählen von ihrer geplanten Reise. Es ist ihre erste lange Motorradtour und sie sind hinreißend in ihrer aufgeregten Nervosität. Wir tauschen uns über Streckenführungen, Ausrüstung, Verpflegung und Erfahrungen aus. Als sie weitermüssen, winken wir ihnen nach. Was für nette Mädchen!
Wir nehmen die D213 ins Tal. Was sich zuerst als übliche Abfahrt zeigt, wird schnell zur Überraschung des Tages! Ein sehr schmaler Single-Track windet sich in engen Kehren - manche mehr als 180° - und durch dichte Wälder ins Tal.
Wir zirkeln durch winzige Bergdörfer wie Le-Celliers, deren Handvoll steinerne Häuser eng am Felsen kleben. Der Asphalt ist denkbar schlecht und voller Frostaufbrüche.
Es dauert einige Zeit, bis wir das Tal erreicht haben. Bis Moûtiers nehmen wir die Schnellstraße N90 die Isère entlang. Der Fluss versteckt sich hinter Bahngleisen des TGV und zahlreichen touristischen Anlagen. Wie eine Stadtautobahn führt die Straße quer durch das Städtchen. Hochhäuser wachsen wie Fremdkörper aus den Wäldern ringsum, während wir durch einige Unterführungen müssen.
Endlich haben wir das Zentrum hinter uns gelassen und in schneller Fahrt geht es auf der N90 nach Nordosten. Alles nur, weil der Col d´Iseran erst morgen aufsperrt! Der Ärger hat sich noch nicht ganz gelegt.
Nur wenige Minuten später sind wir in Aime. Ein uninteressantes Dörfchen am Straßenrand. Firmengelände für zahlreiche Unternehmen. Doch etwas erregt unser Interesse! Hast du die roten Sonnenschirme da drüben gesehen? Wir werfen Anker und nehmen die Ausfahrt. Durch ein Wirrwarr von Tankstellen und Zufahrten finden wir den Parkplatz der "Brasserie Les Ceutrons".
Schnell einen Schattenplatz suchen! Es ist 13:00 Uhr und wir haben Hunger! Die professionell freundliche Kellnerin reicht uns ein Blatt Papier, das heutige Angebot. Die Preise sind durchwegs abschreckend, aber eine "Brettljause" gönnen wir uns! Es ist vielleicht die letzte in Frankreich?
Die "Planche Charcuterie" reicht grad mal für uns Zwei, ist aber tatsächlich eine Auswahl von besonders gutem Schinken und Käse. Sogar ein Stück regionaler Reblochon ist dabei! Den Käse aus Savoyen sollte man sich nicht entgehen lassen, wenn man in der Gegend ist. Um 20.- für eine Jause müsste der Wirt in Österreich zwar um sein Leben fürchten, aber wir haben das einfache, traditionell-bäuerliche Frankreich längst hinter uns gelassen...
Nach einer guten Stunde gehts weiter. Die D1090 führt jetzt spürbar bergauf und wird auch hübscher. Durch einige Wintersportorte gewinnt sie schnell an Höhe und wir kurven - versöhnt mit der Streckenwahl - hinauf in die Berge der Nordalpen. In bemerkenswerten Serpentinen geht es bald an die Baumgrenze, wo alpenländisch gestylte Chalets aus den 1960er Jahren die Berghänge dominieren.
Wir tuckern jetzt durch La Rosière, einen weiteren alten Ort, der jede Authentizität an den Ski-Tourismus abgeben musste. Zu bunt, zu viel Pappmaché, zu viel Plastik. Und zuviele Baustellen, die alles noch verschlimmern.
Die Landschaft jedoch ist einzigartig! Wir cruisen gemütlich die in den Berghang gefräste Straße entlang. Vorbei an Ski-Arena, Club Med und Paintball-Hallen geht es hinüber Richtung Pass. Graue Steinwüsten und Geröllhalden begleiten unseren Weg. So wie vermehrt hohe Schneewächten am Straßenrand. Der Winter dauert lange hier heroben!
Die von Napoleon III. gebaute Straße dient im Winter auch als Skipiste. 9% Steigung sind unspektakulär und wir lassen die Transalps zügig dahinlaufen. Es geht vorbei an einem mächtigen Monolithen am Straßenrand, auf dem eine Heiligenfigur thront. Das mächtige graue Haus war seit dem 11. Jhdt. ein wichtiges Hospiz, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Jetzt ist dort das Tourismusbüro.
Plötzlich sind wir ganz oben auf 2.188m. Ein Plastik-Bernardiner begrüßt uns am Col du Petit Saint Bernard.
Zumindest Elefanten aus Plastik hat man hier weggelassen, auch wenn Hannibal möglicherweise diesen Weg über die Alpen genommen hat.
Infobox
Etwa 218 v. Chr. soll der karthagische Feldherr mit etwa 60.000 Soldaten, 9000 Pferden und 37 Elefanten von Spanien nach Rom gezogen sein. Es ging um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum. Alle Anstrengungen nutzten nichts, auch wenn der Punische Krieg 55 Jahre dauerte. Rom gewann nachhaltig und Karthago - in der Nähe von Tunis - wurde für immer zerstört.
Bekannt geworden ist das Zitat des Senators Cato, der jahrzehntelang jede Senatssitzung mit dem Ausspruch beendete: "Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!" ("Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.") Dieses Zitat wird als "Ceterum censeo" auch heute noch gerne persifliert!
Wir lesen über diese Geschichten, während wir auf einer hübschen Holzbank Kaffee trinken und Fotos machen. Es ist schön hier heroben! Schau da drüben die Betonwürfel! Dieser Teil des Alpenwalls wurde nie fertiggestellt. Man gab den Bau 1942 auf.
Von unserem Sitzplatz aus sehen wir das französisch-italienische Grenzschild. Es ist Zeit, von Frankreich Abschied zu nehmen, stellen wir ernüchtert fest. Ein tolles Reiseland! Wir kommen auf jeden Fall wieder!
Wir passieren das kleine Grenzschild und sind in Italien. Rechts erkennen wir die kniehohen Ruinen der römischen Raststation, die hier komplett mit Ställen, Wirtshaus und Übernachtungsmöglichkeiten ausgestattet war. Auf Googlemaps wird sie mit "dauerhaft geschlossen" beschrieben. Ja seit etwa 1700 Jahren, ihr Intelligenzbestien!
In wunderbaren Kurven schwingen wir neben weiteren Ruinen durch die karge Bergwelt bergab. Ab und zu sehen wir noch Schnee, der sich hier monatelang gehalten hat. Links und rechts glitzern kleine Seen in der Sonne.
Je weiter wir ins Tal kommen, desto wärmer wird es wieder. Schon zirkeln wir um enge Kurven hinunter. Wir freuen uns über den Schatten der hohen Nadelbäume, denn es hat schon 31°C!
Lautstark bollern unsere Transalps durch die langen Gallerien, die winters vor Lawinenverschüttung schützen sollen. Und nach sechs knackigen Kehren mit über 180° rollen wir durch La Thuile. Die Straße nennt sich jetzt SS26 und wir sind jetzt offiziell im Aosta-Tal!
Das enge Tal führt uns nach Pré-Saint-Didier, das tatsächlich mal zu Sardinien gehörte. (Geschichte ist manchmal etwas Verrücktes!) Der kleine Kur- und Wintersportort gibt sich nobel und äußerst elegant. Damenmodengeschäfte, Bars und Juweliere werben hier um Kundschaft. Wir wollen nur Kaffee, der Anblick des nahen Mont Blanc ist so beeindruckend!
Aber wir finden tatsächlich auf die Schnelle kein ansprechendes Plätzchen. An solchen Orten eröffnet man vermutlich keine schlichte Bar-Tabac! Da drüben gehts nach Courmayeur! Bei der Suche von Unterkünften haben wir dieses berühmte Dorf erwogen. Aber ehrlich, die rufen vollkommen absurde Preise auf!
Es sind nur mehr ein paar Kilometer! Wir tuckern durch das Tal, das sich allmählich weitet und wir sehen die ersten Weinberge, für die das Aosta-Tal so berühmt ist. Vorbei an Morgex finden wir schnell die Auffahrt nach La Salle. Unser heutiges Ziel liegt oberhalb der Talsohle, mitten in Europas höchsten Weinbergen!
Nur ein oder zwei knackige Kehren bergauf und schon werfen wir Anker. Unser Campingplatz liegt am Ortseingang und ist wirklich gut ausgeschildert! Die Schwierigkeiten mit den bissl unbeholfenen Betreibern sind schnell gemeistert und kurz später löffeln wir hungrig die letzte Portion Travellunch dieser Reise.
Wenn wir uns vor der Hütte ein wenig rüberbeugen, sehen wir den Gipfel des Mont Blanc im Sonnenuntergang! Unglaublich toll!
Auf jeder Reise interessiert uns, wo wir abends gelandet sind! Deshalb starten wir um 20:00 Uhr einen kleinen Dorfrundgang. La Salle klebt an einem steilen Berghang, es geht ambitioniert bergauf! Wir staunen über die Häuser. Jedes ist aus grauen Steinen zusammengesetzt und trägt ein glattpoliertes Schieferdach. Manche sind durch Anbauten aus Altholz noch verschönert. Was für ein Luxus hier zu sehen ist!
Ein besonders pittoreskes Häuschen könnte Signora Brignone gehören, wie wir aus der Deko schließen. Wir verstehen langsam: Die wahren Sehenswürdigkeiten dieses Dörfchens sind die Häuser der Bewohner! Nur Café finden wir keines. Obwohl es noch nicht spät ist, liegt La Salle im Tiefschlaf. Der Mont Blanc ist hinter Wolken verschwunden.
Ab 22:00 Uhr sitzen wir noch lange auf unserer Hüttenterrasse und schlürfen Kaffee aus unseren Vorräten. Das ist die letzte Hütte und der letzte Campingplatz dieser Reise, wie wir melancholisch in die Finsternis seufzen. Aber drei Fahrtage sind noch über und wir wollen das Beste daraus machen!
Tageskilometer: 180 km
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