6. Tag: Marville - Bayeux

Um 9.30 Uhr sind wir abfahrtsbereit! Wir haben eine Tasse Kaffee geschlürft und Angelika hatte noch zwei süße Schoko-Croissants vom Abendessen gerettet. Philippes Frau hätte uns ein Frühstück gerichtet, aber wir wollen keine Zeit mehr vergeuden und verabschieden uns herzlich. Diese lieben Menschen winken uns lange nach, als wir das automatische Gartentor passiert haben!

Marville ist heute vormittag genauso ausgestorben wie gestern abend und wir rollen leise auf der D140 aus dem Ort. In der Morgensonne hat es bereits 20°C und wir cruisen unter dem blauen Postkartenhimmel über unendlich weite, gelbe Stoppelfelder. Die erlaubten 80 km/h machen reinstes Genußfahren möglich, zumal hier auf dem flachen Land überhaupt kein Verkehr herrscht.

Lange geht es gleichförmig und nahezu kurvenlos dahin. Wir durchqueren nun die Landschaft der "Beauce", eine nahezu baum- und strauchlose Ebene. Unendliche Getreidefelder wechseln mit ebenso weitläufigen Weiden. Die "Kornkammer Frankreichs" nennen sie das hier, denn hier sind die Hauptanbaugebiete von Getreide und Mais. Es stört uns heute nicht, so eintönig dahinzubollern. Motorradfahren in Zeitlupe!

Bei Chateauneuf-en-Thymerais ändert zwar die Straße ihren Namen, nicht aber die Gegend ihr Aussehen. Ab jetzt geht es auf der D939 nordöstlich Richtung Meer! Nach 25 km durchqueren wir den nächsten größeren Ort. Brezolles begeistert uns durch uralte Häuser, die jedoch - das fällt uns auf - anders als südlicher nicht mehr aus grauem Stein sondern aus roten Ziegeln errichtet wurden. Die schmucken Fensterumrahmungen verleihen sogar abgehausten Gebäuden eine gewisse Eleganz!

Nach dieser klitzekleinen Abwechslung hat uns das flache Land wieder. Nur der Verkehr wird nun deutlich mehr! Auf einer langen Geraden Richtung L´Aigle, als wir buchstäbliche 23 km schnurgeradeaus rollen, haben wir vom meditativen Fahren schon genug. Wir wedeln uns das eingeübte Zeichen für "Kaffeepause, schnell"! Doch es dauert noch eine weitere halbe Stunde auf der D919 "Route de Paris" gen Norden, bis wir einen belebten Ort finden, in dem wir uns ein Café erhoffen können.

Wir sind im Departement Calvados angekommen und die weiten Ebenen wurden längst abgelöst von kleinen Wäldchen an hügeligen Wiesen. Wir kurven gerade ein paar Serpentinen bergab, als wir weit unter uns eine hübsche Kleinstadt erkennen, die sich in eine Talsenke schmiegt. Orbec! Ohne Verzögerung rollen wir in das Stadtzentrum und sind schon auf den ersten Blick begeistert! Wunderschöne, uralte Fachwerkhäuser gruppieren sich um die mächtige Stadtkirche "Notre Dame", die mit ihren trutzigen Mauern alle Gebäude um ein Vielfaches überragt.

Instinktiv finden wir die Hauptstraße, in der sich ein Gastgarten an den nächsten reiht. Bei einer kleinen aber gut besuchten "Bar-Tabac" fädeln wir unsere Hondas auf einen Parkplatz und entern das Lokal. Wow! So etwas gibt es bei uns nicht! Es ist alles andere als ein nobles Etablissement, aber es strahlt eine wunderbare Unkompliziertheit aus.

INFOBOX

Die Bar-Tabac lernten wir als französische Eigenheit kennen, die noch am ehesten mit unseren Wiener "Branntweinern" zu vergleichen ist. Einfache Lokale, in denen nur Alkohol, kalte Getränke und manchmal Kaffee ausgeschenkt werden. Zu essen gibt es - wenn überhaupt - nur einfache Sandwiches und Süßigkeiten. Hier bekommt man natürlich - das Tabakverkaufsmonopol war der Hintergrund dieser Geschäfte! - vor allem Tabak und Rauchwaren aller Art, eventuell noch Zeitungen, Postkarten und Lotteriespiele.

Die Besonderheit liegt darin, dass diese Lokale täglich geöffnet haben und in ländlichen Gegenden oft der einzige soziale Treffpunkt sind. In diesen Lokalen kennt man sich, jeder Gast wird wie ein alter Freund begrüßt. Wir haben es geliebt, in diesen einfachen Gaststätten so oft wie möglich auf einen schnellen Kaffee einzukehren!

Angelika stiefelt in das winzige Lokal und holt zwei gute Kaffees. Hier gibt es nichts zu essen, aber die Franzosen lösen das Problem elegant. Wir beobachten viele Gäste, die mit einer Tüte vom Bäcker da drüben kommen und ihre Beute auspacken. Hier bringt man sich sein Essen selbst mit und niemanden stört das? So unvorstellbar das bei uns wäre, so normal ist das hier! Wir finden das seltsam, aber es gefällt uns!

Wir sitzen eine Zeitlang an der Straße und beäugen wunderbare Fachwerkshäuser und wunderhübsche kleine Geschäfte ringsum. Aber wir haben noch 100 km vor uns, wir sollten langsam aufbrechen!

In Lisieux hoffen wir, eine bestimmte Route zu finden, was natürlich prompt schiefgeht. Die belebte Kleinstadt ist größer als gedacht! Und ziemlich verwinkelt. Dafür haben wir einige gute Ausblicke auf die prächtige Basilika Sainte-Thérèse, die sicher einen Besuch wert wäre! Später werden wir lesen, dass Lisieux der zweitgrößte Wallfahrtsort nach Lourdes ist...

Wir verlassen die Stadt auf der D579 gen Norden. Wir wollen diese Straße mit Autobahncharakter möglichst schnell wieder verlassen und nach einer kleinen Orientierungspause biegen wir nach Bonnebosq ab. Wir richten uns nach unserer Karte und bollern nun winzige Güterwege Richtung Nordwesten.

Die Landschaft der Normandie hat sich grundlegend geändert! Dichte Hecken und Alleen säumen die unbenannten Single-Tracks und ab und zu sehen wir versteckt hinter hohen Bäumen eine prächtige Villa im Fachwerkstil. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser Region des Calvados das Geld zuhause ist!

Plötzlich erkennen wir, dass wir uns auf einer Hochebene befinden. Da unten sehen wir schon das Meer! Jetzt geben wir Gas und beeilen uns nach Cabourg. Ein paar aussagekräftige Kehren und pittoreske Orte später stehen wir in der eleganten Kurstadt. Hier gibt es sogar ein Casino und eine Pferderennbahn! Wir sind beeindruckt vom Gegensatz zu den bisherigen Regionen, die wir durchfahren haben. Was für ein Unterschied!

Das reiche Seebad besitzt den feudalen Charme der Belle Epoque aus dem 19. Jhdt! Ein exquisites Grand Hôtel reiht sich an das nächste. Die blitzblanken Straßen sind gesäumt von sorgfältig manikürten Rasenflächen und aufwendig gepflegten Blumenbeeten. Praktischerweise wurde die Stadt am Reißbrett symmetrisch geplant und alle Straßen führen zum weißen Sandstrand. Nichts wie hin!

Um 14.30 Uhr stehen wir am Ufer des Ärmelkanals, der hier tatsächlich wie ein Meer anmutet. Für uns Landratten ist es auf jeder Reise ein besonderer Moment, das Meer zu erreichen! Sei es die Adria, das Polarmeer, die Ost- oder Barentsee oder den Atlantik. Wir werfen einen langen Blick über den weitläufigen Strand, an dem sonderbarerweise Badeverbot herrscht und auch sonst kein Familienvergnügen angeboten wird.

Vermutlich wandeln die kokett parlierenden Gäste nur in eleganter Nachmittagskleidung - sie im bodenlangen und hochgeschlossenen Teekleid von Paul Poirot, er dezent im grauen Anzug und dem unvermeidlichen Hut - Arm in Arm die Strandpromenade entlang. In Cabourg scheint die Zeit stehengeblieben zu sein...

Mittlerweile ist es bewölkt und eine kühle Brise weht über das Wasser. Uns fröstelt ein wenig. Erst nachdem wir ein paar warme Schlucke aus unserer Thermosflasche genommen haben, fahren wir weiter. Wollen wir an der Küstenstraße gen Westen, müssen wir den Caen-Kanal und die Orne überqueren, die hier ein breites Delta bildet. Wir hoffen, eine geeignete Brücke zu finden!

Langsam bollern wir auf der D514 durch hübsch aufgeputzte Ortschaften, in denen bei Schönwetter vermutlich reges Strandleben herrscht. Wir bleiben auf kleinen Straßen in der Nähe des Meeres. Unvermutet finden wir eine mit zahlreichen internationalen Flaggen geschmückte Brücke, die von Museen und Ausstellungen über den WK II gesäumt wird, und rollen hinüber nach Bénouville. Ohne es zu wissen, haben wir die Pegasus-Brücke überquert, wie wir abends lesen werden!

Auf der D35 geht es nun in Küstennähe weiter. Ortsnamen wir Colleville-Montgomery lassen uns bereits erspüren, in welch geschichtsträchtigter Gegend wir hier unterwegs sind! Der Sturm vom Meer landeinwärts hat massiv zugenommen und wir halten in Schräglage angespannt dagegen. Deswegen und aus Neugier wirft Angelika plötzlich Anker und hält auf einem weitläufigen Parkplatz am Straßenrand. Die kanadische Flagge knattert weithin sichtbar im Wind. Wir stellen die Hondas windgeschützt unter den einzigen Baum und schauen uns um.

Wir stehen am Soldatenfriedhof in Beny-sur-Mer. 2.029 junge Männer der 3. Kanadischen Division ließen am 6. Juni 1944 hier das Leben, als sie unweit von hier landeten, um in der Operation "Overlord" Europa vom Nazi-Terrorregime zu befreien. Langsam gehen wir durch die symmetrischen Reihen von strahlend weißen Grabsteinen. Die meisten Soldaten waren etwa 19 Jahre alt... bei manchen liegt eine persönliche Nachricht von Familie oder Freunden. Nichts an dem friedvollen und ästhetischen Ort lässt das Grauen erahnen, das sich hier einst abgespielt hat.

Das war ein eindrucksvoller Vorgeschmack auf die Besichtigungen der nächsten Tage, hier an den Stränden der Normandie! Nachdenklich klettern wir etwas später wieder auf die Transalps und beeilen uns durch den Sturm bis Bayeux. Unser Hüttenplatz ist gut sichtbar beschriftet und schnell gefunden. Der freundliche Besitzer des Platzes überreicht uns den Schlüssel für die Hütte Nr. 11 und - wie wir es aus Skandinavien kennen - wir stellen die Transalps genau vor den überdachten Hütteneingang.

Nachdem wir uns mit der unpraktischen Winzigkeit unserer Hütte grummelnd abgefunden haben, latschen wir noch in das Selbstbedienungsrestaurant des Campingplatzes für ein einfaches Essen. Angelika ist betrübt, denn wir bleiben hier immerhin drei Nächte und ihr fehlt ein Wasserkocher zum Selbstkochen von Kaffee. Sowas muss in jede Hütte! Immer! Das Tolle an Hütten ist doch die Unabhängigkeit, oder?

Aber als wir schlafen gehen sind wir überzeugt, dass die Höhepunkte der nächsten beiden Tage dieses etwas unsympathische  Quartier aufwiegen werden...

Tageskilometer: 210 km

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Nun sind wir in der Normandie angekommen!

belle epoque

hehehehehe, ich musste lachen bei der beschreibung der belle epoque. kann man sich richtig vorstellen, wie es dort zugeht. :-)))))

bin neugierig, wie es weitergeht!

Interessant!

Jetzt wird es (für mich) spannend. Ich kenne Frankreich gut, nur in der Normandie war ich noch nie. Keine Ahnung, warum.
Ich bin neugierig, was ihr davon zu berichten habt!
Liebe Grüße aus der Steiermark
Tim

Im Bar Tabac

Krötenbrunn und Kotzenbüttel? Fehlanzeige! Namen auf französischen Ortsschildern klingen so elegant, so vornehm, so ... französisch eben. Da fühlt man sich gleich so im Urlaub.

Ich mag das Foto von den Transalps vor dem Bar Tabac. Überhaupt, ein Bar Tabac. Es ist famos. Und das schlechte Gewissen lässt nie nach, sein selbst mitgebrachtes Essen zu essen und dabei alles mit Croissant Krümeln vollzukrümeln. Ich liebe es.

Die Normandie ... Hab ich ausgelassen, wenn man den Mont Saint Michel einmal der Bretagne zurechnen mag, was wohl nicht richtig ist. Die Friedhöfe und den D-Day Strand mochte ich mir nicht ansehen. Ich schäme mich so schon immer genug, wenn ich irgendwo im Ausland auf Opas Spuren treffe.

Ihr Lieben, ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Gute Reise weiterhin ...

Antw.:Im Bar Tabac

Ach du Liebe, danke fürs Mitfahren! :-)
Ja das mit dem Essen in die Bar mitnehmen. An das konnten wir uns nicht so schnell gewöhnen und wir haben das auch nur einmal gemacht und sind uns frech vorgekommen. :-)
Und sonst?
Ich weiß ja gar nicht, was ich zu deiner "Scham" schreiben soll. Der Umgang von Deutschen und Österreichern mit ihrer Geschichte ist schwierig. Ich weiß nur, dass wir wohl alle solche Opas haben und ich weiß, was wichtig ist: Dass wir auf die gute Seite gewechselt haben. Und haben wir!
Aber das ist was für eine Flasche Blanchet am Balkon. Oder zwei...

Wenn du das Thema nicht so magst, dann möchtest du vielleicht morgen nicht mitfahren?

Ich drück dich
Geli

Antw.:Antw.:Im Bar Tabac

Na klar fahr ich auch Morgen wieder mit. "An guten, wie an schlechten Tagen...", du weißt doch :-)

Antw.:Antw.:Antw.:Im Bar Tabac

Freu mich mich sehr!
:-*

danke und alles gute

hi ihr beiden!
danke für euren tollen bericht über mein lieblingsland! nach der katastrophe von gestern in eurer heimatstadt muss euch diese reise ja wie aus einer anderen welt vorkommen.
hoffentlich geht es euch gut und wir denken mit allem mitgefühl an euch wiener!

herzliche grüße
Tina und Familie

Antw.:danke und alles gute

Hallo Tina!
Das ist aber lieb von euch! Danke für deine mitfühlenden Worte! Die Reise kommt uns wirklich schon sehr lange her vor. Aber es ist schön, sich durchs Schreiben, Fotos schauen und Lesen von den schwierigen Zeiten abzulenken, oder?

Ganz liebe Grüße aus Wien!
Geli und Didi

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zuletzt aktualisiert am 18.3.2024