14. Tag: St. Julien - Daluisschlucht - Col Cayolle - Barcelonnette

Es ist 7:15 Uhr, als wir beinahe gleichzeitig aus dem Schlaf schrecken. Es ist saukalt! Was für ein grauenhafter Moment, als die Bettwärme unter der Decke entweicht und wir uns aus den Federn winden. Jetzt macht sich bemerkbar, dass unser Häuschen komplett aus den Fugen geraten ist und alle Fenster- und Türrahmen fingerdicke Spalten aufweisen. 11°C ist nicht warm genug für unsere Sommerwäsche und es hat nichts genutzt, die größten Fugen mit WC-Papier auszustopfen!

Zumindest regnet es nicht mehr. Wir packen unsere Sachen während wir an einer schnellen Tasse Kaffee nippen. Der Boden draußen ist komplett aufgeweicht und wir versuchen, die Hütte nicht mehr als notwendig zu verdrecken, als wir unser Zeug hinauswuchten.

Zwei Stunden später sind wir abfahrtsbereit. Langsam kommt trüber Sonnenschein und wir sind dankbar für ein wenig Wärme. Wir nehmen die N202 und folgen dem Flusslauf des Riou Richtung Nordwesten. Die Straße nennt sich "Route de Grenoble", da kann eigentlich nichts schiefgehen!

Schmal und kurvig führt der Weg durch ein tiefes Tal. Meistens sind wir auf einer gewundenen Höhenstraße, die durch undurchdringliche Wälder führt. Die ein oder andere Felswand lässt die Seehöhe dieser Gegend erahnen und manchmal blitzen hohe Berggipfel durch die Baumwipfel.

Wir tuckern leise durch einige Bergdörfer aus grauem Stein. Sie scheinen an diesem Sonntagvormittag allesamt verlassen. Sind die Bewohner alle beim gemeinsamen Kirchgang? Wir treffen keine Menschenseele, hier im "geologischen Naturreservat der Haute-Provence", wie wir als Regionsbezeichnung auf der Karte entziffern können.

Was für eine einsame Gegend! Ein Frühstück können wir uns abschminken! Hier ist nichts! Wir geben ein wenig Gas, um aus dem Dämmerschlaf des gleichförmigen Dahincruisens heraus zu kommen. Und prompt übersehen wir die malerische Steinbrücke "Pont de la Reine Jeanne", die seit 300 Jahren hier den Coulomp überspannt. So ein Mist! Wir sollten aufmerksamer sein!

Das Tal weitet sich und die Straße wird schmäler. Nur ein niedriges Steinmäuerchen trennt uns nun vom Fluss Var, dessen ausgetrocknetes Bett sich links neben uns ausbreitet. Es ist warm geworden! In der Sonne hat es 25°C und nie war uns mehr nach Frühstück als jetzt. Wir machen eine kurze Pause und essen ein paar zerbröselte Kekse, die wir noch im Tankrucksack gefunden haben. Das müssen wir besser organisieren!

Und ganz plötzlich verlassen wir das "Département des Alpes de Hautes-Provence". Wir sind nun in den "Alpes Maritimes" und finden das ganz erstaunlich. Die Regionsbezeichnung klingt nach Meer und uns wird bewusst, dass Nizza und die mondäne Côte d´Azur gar nicht weit entfernt sind. Gerade mal 90 Minuten mit dem Motorrad! Was für ein seltsamer Gegensatz zu dieser einsamen bergigen Gegend hier!

Die Straße heißt nun D2202 und wir wissen, je mehr Ziffern, desto kleiner. So zieht sich der kurvige Weg den Fluss Var entlang und wir sind schon enorm gespannt, was uns erwartet. Wir haben viel recherchiert und großartige Reiseberichte über unser erstes Tagesziel gelesen!

Fast unbemerkt steigt die eng gewundene Straße an und plötzlich liegt der Var weit unter uns. Wir schrammen an rauen Felswänden entlang und hoffen, dass der Gegenverkehr ein andermal kommt. Da ist schon das Ortsschild von Daluis! Doch wo ist der Ort dazu? Instinktiv geht unser Blick steil nach oben und ... schau! Da ist eine winzige Auffahrt mit ambitionierter Steigung mitten in die Felsen! LKW-Fahrverbot, Steinschlaggefahr, Schneekettenpflicht und die üblichen Hinweise auf eine steile Bergstraße markieren den Weg nach Daluis.

Einige wenige der 141 Daluisiens haben sich herunten am Fluss niedergelassen. Vermutlich ist oben kein Platz mehr, oder der tägliche Heimweg war zu beschwerlich. Wir passieren ein paar einfache Steinhäuschen, die sich eng an die Felswand drücken. Und plötzlich wird es ernst. Die "Gorges de Daluis"!

Es geht extrem eng, kurvig und bergauf und wir kommen gar nicht erst in Versuchung, die hier erlaubten 80 km/h zu probieren. Nur ein kleines Mäuerchen, niedriger als unsere Fußrasten, trennt uns rechts von der steilen Schlucht, die der Var in das brüchige Gestein gefräst hat. Auf der linken Seite grober Fels. Es ist einfach fantastisch, hier zu fahren! Manche sprechen von der schönsten Motorradstrecke der Seealpen! Ja, das könnte stimmen!

Was für ein gewaltiger Anblick diese Landschaft ist! Die von Millionen Jahren Erosion glattgeschliffenen, massiven Felsen in allen Rottönen. Der azurblaue Himmel. Steile Serpentinen. Der atemberaubend tiefe Canyon, in den man ab und zu hinuntersieht. Es ist gigantisch! Das hier ist noch besser als die Verdonschlucht gestern!

Die Straße hat jetzt so wenig Platz, dass sie manchmal als Einbahn geführt wird. Eine Spur außen rum an der Felskante, die andere Spur durch einen engen Tunnel. Wie ungewöhnlich! Wir verlangsamen abermals die Fahrt, um nur nichts zu versäumen. Manchmal schauen wir senkrecht hinunter auf den Fluss.

Der einzige Verkehr an diesem Sonntag Mittag sind ein paar Italiener auf schwer bepackten Motorrädern, die gleichmäßig um jede Kurve zirkeln. Die gestylten Sozias elegant hinten drauf, mit beiden Händen die Filmkameras im Anschlag. Wir müssen grinsen. Ja, so gehts natürlich auch! Wir hingegen hoffen, dass unsere Bordkameras gute Erinnerungen schaffen und Styling ist nach 14 Reisetagen sowieso aus.

Plötzlich rechts ein winziger Parkplatz, mehr eine kleine Öffnung zwischen den Felswänden! Die Italiener sind schon da und wir paddeln unsere guten alten Transalps mitten in die Menge. Pause!

Wir stehen an der "Pont de la Mariée", einer Bogenbrücke, die den gesamten schmalen, 80 Meter tiefen Canyon überspannt. Während wir ein paar Brocken brüchigen Schieferstein zwischen unseren Fingern zerbröseln, lesen wir die furchtbare Geschichte, von der die Braut-Brücke ihren Namen hat.

Infobox

Um diese ehemalige Straßenbahnbrücke ranken sich viele Mythen und Geheimnisse.

Eines Abends im Juli 1927 besuchten Bernard und Marie-Louise, die an diesem Tag Hochzeit gefeiert hatten, diese Brücke. Es war gerade finster geworden, als der völlig verstörte Ehemann alleine zurückkehrte. Seine Frau wäre von der Brücke gefallen, meldete er hysterisch! Suchmannschaften eilten los aber man fand die Leiche erst in den nebeligen Morgenstunden. Verbrechen oder Unfall? Die Untersuchungen einigten sich letztendlich auf ein tragisches Unglück. Doch es blieben Fragen offen...

Es gibt Gerüchte, dass sich die verzweifelte 22-jährige kurz vor der drohenden Hochzeitsnacht hier das Leben nahm, um die Übergriffe ihres Ehemanns nicht erdulden zu müssen, der ihr aufgezwungen worden war. Oder aber sie war keine Jungfrau mehr und konnte diese Schande in der Hochzeitsnacht nicht ertragen. Manche raunen, dass sie heimlich längst vergeben war und nun ihren wahren Geliebten nicht mehr heiraten konnte.

"Wir werden es nie erfahren," steht auf dem schwarzeisernen Kreuz, das heute die Stelle des Sturzes markiert.

Wir schauen ein letztes Mal hinunter auf den Var. Gruselig! Aber nun gehts weiter. Wir hatten immer noch kein Frühstück und es ist schon 11:00 Uhr!

Nur noch durch einen schmalen Tunnel und die Höhepunkte der "Gorges de Daluis" liegen hinter uns. Das bergige Tal weitet sich und nur Minuten später sitzen wir mit einem riesigen Häferl Kaffee vor einem sehr einfachen Lokal in Guillaume und mampfen buttrig-fette Croissants. "Formule Sandwich" heißt in der "Bar Tabac des Alpes" die Snack-Kombi und um 5,50.- erscheint uns das recht günstig.

Plötzlich haben wir es eilig. Hast du auch die dunklen Wolken da vorne gesehen? In Fahrtrichtung hat sich der Himmel verfinstert. Es wird doch nicht ausgerechnet jetzt Schlechtwetter? Schnell trinken wir den letzten Schluck Kaffee und tanken die Transalps bei der kleinen Tankstelle neben der Bar randvoll. Jetzt aber los!

Zügig kurven wir nun wieder den Fluss Var entlang. Mal in weiten Schwüngen, mal in engen Kehren führt die D2022 in den Norden. Bald wird das fruchtbare Tal wieder schmäler und in Entraunes haben uns die beeindruckenden Felswände, die die Straße begrenzen, wieder. Hier hat uns das Unwetter eingeholt.

Darf das wahr sein? Bei unserer ersten richtigen Bergetappe dieser Reise? Es geschieht punktgenau in der ersten Kehre auf den Col de la Cayolle. Dicke Tropfen platschen auf unsere Helme und wir können jetzt nur hoffen, dass unsere Motorradjacken dicht halten. Unser Regenzeug steckt warm und trocken in der kleinen Packrolle hinter uns.

Der Asphalt hat schon lange besser Zeiten gesehen und die Sicht liegt bei null. Nicht nur, weil die tiefen Wolken jede Sicht auf die Berggipfel verhindern sondern auch, weil es in unsere teuren Helme hineinregnet. Da haben wir bis jetzt keine gute Lösung gefunden. Was für ein Ärger!

Wir zirkeln jede Kurve mit dieser anstrengenden Mischung aus "Schnell weg da!" und "Voooorsichtig!". Mühsam ist das! Als wir oberhalb der Baumgrenze angelangt sind, gibt es keinen Schutz mehr.

Wir versuchen, den prasselnden Regen zu ignorieren, als wir auf 2.327 m ein schnelles Gipfelfoto machen. Aber es will keine rechte Laune aufkommen und wir schauen, dass wir schnell wieder etwas talwärts kommen.

Der starke Wind nervt gewaltig und es ist mit 9°C auch nicht allzu warm. Sogar einige Schneefelder sind vom Winter übergeblieben! Unsere schlechte Sicht wäre beinahe einigen Murmeltieren zum Verhängnis geworden. Sie haben es nur knapp vor uns noch über die Straße geschafft! Nach einigen Kehren abwärts suchen wir unter einem mickrigen Nadelbaum am Straßenrand dürftigen Schutz und machen kurz Pause.

Während wir bei ein paar Schluck aus der Thermoskanne durchatmen, werden wir von den Nagetieren neugierig beäugt. Und die Sonne kommt heraus! So plötzlich, wie der Regen kam, ist er wieder vorbei. Ja, so ist das nun mal in den Bergen.

Nur noch ein paar rabiate Kehren bergab und wir sind in der "Gorges du Bachelard"! Fast einspurig und kurvig führt das enge Sträßchen D902 zwischen steilen Felswänden hinaus aus dem Tal. Links unter uns sprudelt in wilden Stromschnellen der Bachelard, doch wir haben kaum Augen für den Wildbach! Alle paar Meter kullern scharfkantige Felsbrocken vor unsere Vorderreifen und auch wenn wir großes Vertrauen in unsere "Heidenau K60 Scout" haben - probieren wollen wir die Reißfestigkeit trotzdem nicht!

Für die 25 Kilometer brauchen wir fast eine dreiviertel Stunde! In den winzigen Bergdörfern, die an den Felsen kleben, gab es nichts zu essen. Sie waren vollkommen verlassen. Wir haben nicht mal einen Platz zum Stehenbleiben gefunden, obwohl wir mit unserer neuen Gepäckslösung so schmal geworden sind. Kann sich jemand unsere Begeisterung vorstellen, als wir in Uvernet diesen Food-Truck entdecken, der bunt geschmückt links auf einer kleinen Wiese steht?!

Es dauert nur wenige Augenblicke und wir sitzen mit einer angemessen großen Portion "Focaccia con porchetta" auf einer wettergegerbten Holzbank vor dem Verkaufswagen. Was für ein Glück, dass genau jetzt die Sonne herauskommt! Hungrig mampfen wir den italienischen Rosmarin-Schweinsbraten mit knusprigem Hefebrot. Wie lecker und um á 10.- auch ganz und gar wohlfeil!

Doch nach wenigen Minuten endet das Schönwetter und wir telefonieren mit dem Chef vom Campingplatz. Ob wir vielleicht schon eine Stunde früher einchecken könnten? Wir sind nur mehr vier Kilometer entfernt und das Wetter ... Aber ja klar! Kommt einfach vorbei, tönt der freundliche Mann durchs Telefon. Wir schauen uns an. Das klang aber nett!

Blitzschnell klettern wir auf unsere Transalps und brausen Richtung Barcelonette. Hier kennen wir uns schon aus, wir wissen, wo wir hinmüssen! Au weia! Was ist denn hier los? Der Bau einer Ortsumfahrung ist im Gange und Mega-Baustellen versperren den Weg nach Enchastrayes. Wir bekommen langsam Stress, denn der Himmel färbt sich dunkelschwarz. Hast du den Donner gehört?!

Nach sechs Kilometern rasender Fahrt quer durch das Alpenstädtchen halten wir die Hondas an der winzigen Rezeption des Campingplatzes. Es ist 15:45 Uhr und es schüttet in Strömen. Der nette Chef hat Verständnis, dass wir ihm sein Häuschen volltropfen, während wir schnell die Formalitäten erledigen. Er deutet mit großer Geste über den ausgestorbenen Platz. Was? Das hübsche Fass da drüben ist unseres? Wir sind sofort begeistert!

Vorsichtig rumpeln und schlingern wir über die nasse Wiese hinunter zu unserer Fasshütte. Die ist spektakulär! Mit Terrasse und allem! Wir lassen den 1. Gang lieber drinnen, als wir die Transalps auf der abfallenden Wiese abstellen und unser Zeug abmontieren.

So eine schöne Unterkunft! So ein netter Campingplatz! Wir lassen den Abend bei einem Teller Travellunch ausklingen. Heute gehen wir nicht mehr ´raus! Es hört nicht mehr auf zu regnen und es wird schnell ziemlich kalt. Die hohen Gipfel sind allesamt im Nebel verschwunden. Wir gehen bald schlafen, denn wir sind ziemlich erledigt. Morgen ist ein Jokertag!

Tageskilometer: 110 km

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Daluisschlucht und Col Cayolle - aufregend!

110 Kilometer Etappe

< die größten Fugen mit WC-Papier ausstopfen

Das ist der wahre Campergeist *lach* Aber tatsächlich ungewöhnlich kalt für Frankreich im Juni, oder?

Das Foto mit dem Fluss in der Schlucht und der Steinbogenbrücke im Berg ist genial. Meine Güte, so schön ist es dort. Die Gorges de Daluis ist tatsächlich sagenhaft schön. Der rote Fels ist so besonders. Es ist so lange her, dass ich da auch mal gewesen bin, dass ich mich kaum noch erinnern kann. Vielleicht sollte man da mal wieder hinfahren?!
Aber an Guillaume erinnere ich mich, ein Dorf buchstäblich im Nirgendwo.

Nachdem man auf der Unwetter/Steinschlag/mieses Wetter Etappe mitgefiebert hat, ist es umso schöner, Didi mit der Beute aus dem Food Truck zu sehen. *lach*

Und diese Fasshütte ist tatsächlich spektakulär, auch wenn sie ein, zwei Kellerfenster vertragen könnte.

Also können auch „nur" 110 Tageskilometer eine ganz schön anstrengende Etappe sein. Möge morgen wieder die Sonne scheinen...

Svenja



Antw.:110 Kilometer Etappe

Boah, es war so saukalt an diesem See! Wir waren auf das gar nicht vorbereitet und dann wurde auch noch das WC-Papier knapp...

Die Daluis-Schlucht ist sicher eine der besondersten Gegenden, in denen wir die letzten Jahre fuhren. Der rote Fels und die Straßenführung ist so unglaublich! Und in Guillaume ist nicht viel, außer Tankstelle, Bar-Tabac und ein Boulanger. Reicht vollkommen!

Der Food Truck war klasse und kam genau zur richtigen Zeit. Lecker war das!
Geli

Schlucht

Hi!
Ich mag das Foto mit dem Kreis um einen von euch! Wie winzig ist der Mensch in so einer Landschaft? Sehr beeindruckend das Größenverhältniss!
dlzg
Der rider

Antw.:Schlucht

Du hast genau erfasst, was wir zeigen wollten. :-) Wenn man dort fährt, erkennt man das gar nicht in dieser Dimension. Es war sicher eine der tollsten Strecken der letzten Jahre.
LG Geli

Daluis Schlucht

Danke für die Bilder! o.O Eine Wahnsinnsgegend!
LG Micha

Antw.:Daluis Schlucht

Ja, das war es tatsächlich! Eine unglaubliche Kulisse!
LG Geli + Didi

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zuletzt aktualisiert am 7.10.2024